Eva Billisich
Kabarett gemeinsam mit Alfred Dorfer und Roland Düringer: Auswahl: Kultur gegen alle / Fröstl / Muttertag / Planlos
Film / Auswahl: Muttertag / Wanted / MA 2412 / Freispiel / Hinterholz 8 / Poppitz / Viertelliterklasse / Kaisermühlenblues / Tatort
Seit 2020 eigne Kurzfilmprojekte mit F. Salek / Salek und Billisich first cut / https://www.youtube.com/channel/UC3J2Qp-RkyX_5yBLo0sJtuw
Regie /Auswahl: Theatro piccolo: Galoppala 2020/ Der Sturm 2017 / Gummler 2016 / Schaulustig: Die Kaktusblüte 2017/ Das perfekte Desaster Dinner 2016 Run for your wife 2015 / Löwinger New Generation 2016 / Kaufmann und Herberstein: Alles wird gut 2017 / Stadt.Land.Flucht/ Kabarett Georg Bauernfeind: Mitm letzten Geld 2014/ Durst und Nüchtern 2015 / Andrea Händler: Ausrasten / Kabarett 2014 / Andrea Händler/Eva Billisich: Damenspitz 2014 / Musikkabarett SagMas: Drachengasse / Zwei Frauen und eine Leiche 2013 / Andrea Händler: Naturtrüb / Kabarett 2011
Theater / Musical /Auswahl: diverse Produktionen im Theater im Künstlerhaus/Wien, in der Drachengasse/Wien, Petersbrunnhof/Salzburg, Metropol/Wien, Muth / Tourneen in Ö und D / Seeböck-Ensemble: Sommernachtstraum/ Der zerbrochene Krug / Bühne Im Hof/St. Pölten / HipHopStory / Theater Fink / Einedrahra / Abschiedslied / Literaturkutsche Theatro Piccolo / Musicals und Puppentheater/ geschrieben/ gesungen/gespielt /
Kinderbücher / Charlotte Ringlotte / Wedel und Krebsenspeck / Odu Fröhlich / Popelak
Offstage / dritter CliniClown in Wien / AKH und St. Anna Kinderspital, Schauspielpatientin an der Med. Uni Wien
Auszeichnungen / Salzburger Stier mit Schlabarett für Fröstl / Preis der deutschen Schallplattenkritik für Charlotte Ringlotte /Margaretner Kreativ-Hauptpreis für die Margaretner Gstanzln: https://www.youtube.com/watch?v=EtSDjZ5H5eM / Prämie der Kulturabteilung des Bundeskanzleramts für Der Sturm /Regie/ Theatro piccolo
Musik / Eva Billisich und die derrische Kapelln / eigene Lieder im Wiener Dialekt CD Lasterlieder: 2011 / CD Steig ei in mei Bluatbahn: 2013
7 Lieder für das Rote Kreuz / Roko mit dem roten Kreuz / Schlagzeugerin bei Sanierte Altbauten und Pfarrcafe
Kulturkutsche / Humorig Lyrisches und Wiener Gstanzln vorgetragen im Fiaker/ Kooperation mit theaterfink
Erzählungen /
Alles für Anna
Im Zug von Zürich nach Wien kramte sie in ihrer Tasche nach den Fotos. Es war kaum Zeit gewesen, sie vor der Abfahrt zusammenzusuchen. Hastig aus Alben gerissen, aus Schachteln geklaubt, auf den Boden des Koffers geworfen. In Zürich im Hotel aus dem Koffer genommen, in die Handtasche gesteckt, abermals ohne genauen Blick drauf zu werfen.
Immer in Eile. Ständig in Hast. Von einem Termin zum nächsten. Alles war Termin. Beruflich. Privat. Immer gestresst. Atemlos.
Der Zug hatte Verspätung. Sie würde es nicht zum Beginn der Therapie schaffen. Sie hasste es zu spät zu kommen.
Sie starrte auf die Fotos in ihrer Hand. Manche waren zerknittert, einige dünn, beim Herausreißen aus den Alben war das Fotopapier gerissen.
Die Fotos waren ihr fremd. Sie selbst war sich fremd. Sie warf sie in die Tasche zurück, seufzte, legte den Kopf in den Nacken. Nie war dies eine Geste der Entspannung, stets der Erschöpfung.
Sie sollte ihre Tochter anrufen, ließ es bleiben. Zu viel Kraftaufwand, das Telefon aus der Innentasche zu holen, Tasten zu drücken, Worte zu sprechen. Welche Worte?
Die Panikattacken häuften sich. Am Vortag wollte sie in Zürich das Hotel verlassen, trat im Foyer aus dem Lift, hatte das Gefühl, der Boden unter ihr würde schwanken, sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen, einen säuerlichen Geschmack im Mund, sie musste sich in einen der Fauteuils in der Empfangshalle setzen, schlucken, atmen, bevor sie kehrt machte, sich die zwei Stockwerke zu ihrem Zimmer am Treppengeländer hochzog, in der Hoffnung, dass niemand sie ansprechen möge. Sie nahm eine Tablette, trank ein Glas Wasser, legte sich aufs Bett und wartete bauchatmend, dass es vorüberging.
Mit nur einer halben Stunde Verspätung kam sie bei ihren Auftraggebern an, sondierte kurz die bestellten Artikel, gestaltete zwei Schaufenster binnen vier Stunden, kassierte in bar und nahm das Taxi zurück ins Hotel. Heute morgen das Taxi zum Bahnhof. Sie wäre geflogen, wenn sie endlich ihre Flugangst unter Kontrolle bekäme.
Es war kein gutes Jahr für sie. Beruflich ja, persönlich voller Ecken und Abgründe.
Sie musste sich immer öfter zusammenreißen, um ihre Befindlichkeiten vor Auftraggebern zu verbergen, das Herzflattern, die Übelkeit, den Kloß im Hals, die Knie, die plötzlich wegknicken wollten.
Nur wenn sie allein war und ganz in ihrer Arbeit versank, in ihrer Werkstatt an Dekorationsartikeln arbeitete, Modelle entwarf und völlig auf eine Gestaltung konzentriert war, ohne sich dabei beobachtet zu fühlen, verschwanden die Symptome.
Sie klingelte. Zehn Minuten zu spät. Sie kam nie vor der vereinbarten Zeit. Die Therapeutin hatte keinen Warteraum. Anfangs hatte sie das sehr gestört, eine Praxis ohne Warteraum. Absurd. Sie hatte ohnehin Probleme mit ihrem Zeitmanagement. Und gerade in der Therapie sollte sie funktionieren wie eine Uhr? Wäre sie eine Bezaubernde Jeannie, könnte sie sich per Augenzwinkern um Punkt 16Uhr ins Ordinationszimmer beamen. Die Alternative war, im kalten Treppenhaus zu warten, bis der Patient vor ihr aus der Tür trat, sich mit einem verschämten „Hallo“ an ihr vorbeidrückte und den Weg in die Wohnung frei gab. Oder eben, wie sie es vorzog, zu spät kommen.
Die Therapeutin öffnete. Eine Frau um die sechzig, Deutsche, distanziert, mit orangerotem Pagenkopf. Beim letzten Treffen hatte sie sie gebeten, Fotos aus ihrer Kindheit mitzubringen.
Sie zog die Schuhe aus, ein Hausbrauch, der ihr ebenfalls nicht behagte, folgte der Therapeutin ins Beratungszimmer und setzte sich auf die lange fliederfarbene Ledercouch. Ein seltsames Möbel, das sie niemals für sich selbst aufgestellt hätte. Für spezielle Kunden oder als Element einer Installation eventuell. Nun, schließlich war sie auch hier für spezielle Kunden aufgestellt.
Wie zu Beginn jeder Therapiestunde fragte sie sich auch heute, was sie hier eigentlich suchte, und wobei ihr diese fremde nüchterne Frau eigentlich helfen sollte.
Der Druck am Anfang jeder Sitzung etwas zu sagen. Ob sie Lust hatte oder nicht. Schließlich bezahlte sie ja dafür. Sie könnte natürlich auch fünfzig Minuten dasitzen und schweigen. Das wäre die 90 Euro nicht wert. War etwas zu sagen die 90 Euro wert? Sie versuchte herauszufinden, ob das, was sie sagen würde, beliebig war oder bewusst gewählt, ob es wahr war oder einfach nur gut an den Anfang passte.
Während sie sich diese Fragen stellte, war sie auch schon genervt und der Überzeugung, dass sie die Zeit besser genutzt hätte, um nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre Tochter Ausschau zu halten. In Zürich war zum Einkaufen keine Zeit gewesen, und morgen nach der Schule wollten sie feiern. Sie hätte Helmut bitten können etwas zu besorgen, aber Helmut war sich über die Wünsche zwölfjähriger Mädchen nicht ganz im Klaren. Helmut war sich auch über andere Dinge nicht ganz im Klaren, aber das lag auch an ihr. Sie war nicht bereit, alles auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging. Bei ihm nicht und auch nicht hier in der Therapie.
Ich stehe auf und gehe, ich bezahle und sage, dass ich nicht mehr komme, dachte sie, als die Stimme der Therapeutin den Gedanken störte: Haben Sie die Fotos mitgebracht?
Ja. Sie kramte sie aus ihrer Handtasche und legte sie vor sich auf dem niedrigen Kirschholztisch auf. Vom Transport ohne Schutzhülle waren sie großteils zerknittert, mit umgeknickten Ecken.
Sie, stehend in einem altmodischen Kinderwagen, noch ohne Haare, mit einem Haltegurt gegen das Herausfallen fest gezurrt, ihre Mutter daneben, im knappen Twin-Set und mit hohen Absätzen, strahlend.
Ein Mann, der sie als Einjährige hochwirft, das Foto hält den Moment, kurz bevor er sie wieder auffängt, fest. Ihr Vater. Blond, kurzhaarig. Beide lachen. Das einzige Foto von ihrem Vater. Als sie zwei war, trennten sich die Eltern, und es hatte für fast zehn Jahre keinen Kontakt mehr gegeben.
Sie hatte der Therapeutin erzählt, dass sie nur wenige Erinnerungen an ihre Kindheit hatte. Alles war eingebettet in einen wabernden Nebel, in dem sie nur hie und da Umrisse von Gestalten oder Stimmen entfernt wahrnehmen konnte.
Die Therapeutin hatte deshalb die Idee mit den Fotos gehabt. Sie sollte sie mitbringen, anschauen und beschreiben, was sie darstellten, erzählen, was sie dabei fühlte.
Sie fühlte eben diesen Druck im Bauch, als hätte sie einen Stein verschluckt.
Ihre Mutter und sie, erster Schultag, Zöpfe bis über die Schultern, weit aufgerissene Augen, ernst, ängstlich, im Faltenrock, die Mutter mit toupierten Haaren, Lidstrich und Lippenstift, die Schultüte im Arm. Wer hatte dieses Foto gemacht? Die Großmutter vielleicht.
Eine Welle von Übelkeit schwappte in ihr hoch, erreichte den Kehlkopf, sie schluckte und atmete tief. Wie sollte sie in knapp einer Stunde Annas Geburtstagsgeschenke kaufen?
Ihr Handy läutete. Verzeihung, ich hab vergessen, es abzudrehen…. meine Tochter... Moment bitte... Anna? Ja, mein Schatz, ich bin schon da. In der Therapie. Ist Papa zu Hause? Gut. In circa zwei Stunden. Ich freue mich. Bis dann.
Sie war in der Volksschule am Nachmittag allein daheim gewesen. Ab der zweiten Klasse. Sie wollte nicht mehr in den Hort. Dort hatte man sie einmal von Mittag an, bis ihre Mutter sie um fünf abholte, vor einem Erbsenpüree, das sie nicht hatte essen wollen, sitzen lassen.
Sie stellte sich Anna vor, fünf Stunden vor einem Erbsenpüree sitzend, während die anderen herumliefen und spielten. Saures Aufstoßen im Hals.
Allein zu Hause war es besser. Sie machte Aufgaben, ihre Großmutter hatte ihr erzählt, dass sie immer gern Aufgaben gemacht hätte, manchmal noch Fleißaufgaben dazu. Danach bastelte sie. Stundenlang schnitt sie aus, klebte zusammen, malte an, modellierte und nähte.
Auf dem Foto saß sie an der alten Tretnähmaschine der Großmutter, den Kopf gesenkt, die Zöpfe baumelten vornüber. Warum trug sie auf all diesen Fotos Zöpfe?
Konzentriert wirkte sie da, ganz versunken, eins mit ihrem Tun.
So wie heute, dachte sie, wenn ich gut arbeite.
Wie geht es Ihnen? , fragte die Therapeutin.
Ich weiß nicht, sagte sie. Sie hatte nicht das Gefühl, dass diese Fotos, abgesehen von dem mit der Nähmaschine, viel mit ihr zu tun hätten.
Da, wieder ihre Mutter mit weißer Bluse auf einer weißen Couch, davor ein weißer Teppich, dahinter die weiße Kredenz. Die neue Wohnung, in die sie übersiedelt waren, nachdem ihre Mutter mit dem Job für Arzneimittelvertretung gut verdient hatte und es sich leisten konnte, aus der kleinen Zweizimmerwohnung, die sie während ihrer Volksschulzeit bewohnt hatten, auszuziehen. Der Name ihrer Mutter fiel ihr ein, Chiara, die Helle, das passte zu dieser Wohnung. Passte nicht zu den Haaren der Mutter, die schwarz waren und dicht, und wie es auf den Fotos schien, immer perfekt geschnitten und geföhnt. Sie war Halbitalienerin.
Wie ein Fotomodell in einem Katalog für ein Einrichtungshaus, dachte sie und nahm das Bild vom Tisch auf.
Sie betrachtete es genauer, und plötzlich trat der Nebel zurück. Sie sah schwarze Farbe auf dem weißen Teppich zerrinnen, schwarze Flecken auf der weißen Couch, die Türen der Kredenz geöffnet, weißes Porzellan und Gläser zersplittert auf dem Boden. Ihre Mutter, weinend, schreiend, schon außerhalb des Fotos, im Schlafzimmer, hob Rock um Rock, Bluse um Bluse, Kleid um Kleid vom Bett, alles zerschnitten, kein Teil mehr ganz, sogar die Unterwäsche. Sie selbst stand einfach da. Griff langsam nach einer Scherbe, die am Boden lag und schnitt sich in den Finger. Sah zu, wie das Blut aus dem dünnen Hautspalt trat und auf den weißen Teppich neben die schwarzen Flecken tropfte. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz.
Sie erzählte der Therapeutin, dass sie in dieser Wohnung nicht viel Zeit verbracht hätte.
Chiara hatte die Wohnung im Sommer nach ihrem Volksschulabschluss gekauft und im September des gleichen Jahres war sie in ein Internat geschickt worden, außerhalb von Wien.
Sie erinnerte sich daran, dass im Schlafraum zehn Betten gestanden waren, je fünf zusammen geschoben in der Mitte des Raumes, und dass sie keine Nähmaschine und kein Bastelmaterial zur Verfügung gehabt hatte. Als sie von zu Hause welches mitbrachte, verbot man ihr, es zu benutzen, da Kleber, Papier- und Stoffschnipsel alles verunreinigen würden. Unter all den Menschen im Internat fühlte sie sich einsamer als allein zu Hause.
Sie stellte sich Anna im Internat vor. Anna abends allein im Waschraum vor dem kalten Waschbecken. Anna, die verschämt in ihr gestreiftes Nachthemd schlüpfte, während hinter ihrem Rücken andere Mädchen kicherten und Grimassen schnitten. Anna, die allein unter die dünne Decke kroch und ihren Stoffhasen fest an ihr pochendes Herz drückte. Anna, die unter der Decke dicke Tränen ins Plüschfell des Hasen weinte.
Es war unerträglich. Sie wischte sich über die Stirn und den Gedanken fort. Niemals würde sie derartiges zulassen.
Konnte sie Anna zu ihrem zwölften Geburtstag noch ein Stofftier schenken? Einen Hasen mit braunen Glasaugen und langen weichen Ohren. Anna wünschte sich Ohrringe. Und ein Parfum.
Nächstes Foto. Ihre Mutter in einem Büro am Telefon. Sie kannte das Büro nicht. Sie kannte ihre Mutter nicht. Mit spitz gefeilten Fingernägeln, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während sie in einem Katalog blätterte.
Stimmen drangen durch den Nebel. Chiara, die mit einer Freundin telefonierte.
Nein, sie telefonierte nicht. Ein Bild schob sich herein wie eine Kulisse im Theater. Darauf saßen Chiara und eine zweite Frau zusammen auf der weißen Couch, während sie selbst im Nebenzimmer eine Fee mit vielen Schleiern zeichnete.
Ihr Bleistift huschte übers Papier, während ihre Ohren ganz draußen waren bei dem Gespräch der beiden. Sie redeten über den Mann, mit dem Chiara die letzten beiden Jahre eine Beziehung gehabt hatte.
Ein neues Bild kam herein, diesmal von oben, wie vom Schnürboden des Theaters heruntergelassen. Ein großer Mann, helle Haare, helle Wimpern, sympathisch. Sie erinnerte sich, dass er auch bei ihnen übernachtet hatte. An den Wochenenden waren sie manchmal wandern oder Boot fahren gewesen, wobei der Mann ihr Geschichten erzählte und ihr gezeigt hatte, wie man die Ruder bewegt, während Chiara sich eher abseits hielt und aussah, als würde sie sich langweilen. Sie hatte ihn gemocht. Er schenkte ihr eine Spezial - Bastelschere und einen Ring mit Schlangenkopf.
Du hast ihn provoziert, sagte Chiaras Freundin. Du kannst so etwas zu einem Mann nicht sagen! So etwas sagt man überhaupt nicht! Das ist respektlos, taktlos und ohne Gefühl! Mich wundert nicht, dass er jetzt spinnt!
Er hätte auch gesponnen, wenn ich ihn taktvoller verlassen hätte, hörte sie Chiara sagen. Sie konnte sogar hören, wie ihre Mutter den Rauch der Zigarette ausblies. Außerdem ist, was ich gesagt habe, harmlos im Vergleich zu seinen Drohungen! Aber glaubst du, die Polizei unternimmt etwas? Keine Spur! Verbieten ihm, dass er sich mir auf hundert Meter nähert und denken, dass er sich dran hält? Und was ist mit dem Telefon? Ich weiß nicht, wie er die Geheimnummern herauskriegt! Wohin ich auch gehe, ich fühle mich verfolgt. Ich will einen Begleitschutz, und sie geben mir keinen.
Also, das halte ich jetzt auch für übertrieben, einen Bodyguard, sagte Chiaras Freundin. Wir sind hier nicht in Hollywood.
Aber ich fühle mich wie in einem Film, und ich sage dir, es ist kein gutes Gefühl. Das war Chiaras Stimme.
Schnitt. Sie sah sich selber in der Tür stehen, den beiden Frauen gegenüber. Ihre Mutter, die den Kopf hob, Entsetzen im Blick. Du lieber Himmel, Kind, was machst du da?
Es war ihr, als hätte sie diese Frage schon unzählige Male gehört. Sie selbst stellte sie sich ständig, seit sie sich erinnern konnte. Was machte sie da eigentlich?
Zu oft war sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Fühlte sich wie eine Schachfigur von unbekannter Hand in eine Situation geschoben, rund um sie Fremde, Angreifer, Bedrohung und sie selbst ohnmächtig, außerstande einen Schritt zu tun.
Freitags im Internat hatte sie Angst gehabt, ihre Mutter könnte vergessen, sie fürs Wochenende abzuholen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, wenn sie mit der gepackten Tasche auf dem Platz vor dem Schulgebäude stand und zusah, wie die Mitschülerinnen eine nach der anderen in die wartenden Autos stiegen, und Chiara war noch nicht da.
Dann, sie war schon beinahe die letzte auf dem Platz, schob sich endlich die Schnauze des weißen Peugeots um die Ecke, unendlich langsam, und da war Chiara, die aus dem Fenster winkte, strahlend. Nie brachte sie es über sich, der Mutter zu sagen, dass sie doch ein wenig früher kommen sollte, um sie nicht so zu ängstigen. Nie wollte sie der Mutter die gute Laune verderben.
Die Stunde ist bald um - richtig, die Therapeutin war ja auch noch da -, gibt es noch etwas, dass sie sagen oder besprechen wollen?
Meine Mutter hat gern telefoniert, sagte sie und klaubte die Fotos vom Tisch. Ich rufe Sie an wegen des nächsten Termins, ich habe im Moment viel um die Ohren und bin nächste Woche nicht in Wien.
Sie schüttelte der Therapeutin die Hand. Danke.
Wofür bedankte sie sich eigentlich? Sie zahlte ihr doch 90 Euro. Wofür? Ich muss verrückt sein, dachte sie. Sag schön Bitte und Danke, auch wenn du gar nicht weißt wofür und warum. Sei höflich und immer gut frisiert.
Eilig lief sie die Treppen hinunter. Aus dem Innenhof ohrenbetäubender Baulärm. Sie hatte ihn schon durchs Fenster gehört. Seit Monaten wurde hier großräumig umgebaut. Wie können Therapiestunden bei solchem Lärm stattfinden, fragte sie sich. Die Klienten, dachte sie, müssten von dem Lärm verstörter nach Hause gehen als sie gekommen waren.
Das Gespräch zwischen Chiara und ihrer Freundin musste stattgefunden haben, kurz bevor ihr Exfreund in die Wohnung eingedrungen war und dort alles verwüstet hatte. Ihre Mutter hatte danach tatsächlich einen Leibwächter engagiert, wenn sie abends außer Haus musste. Auf eigene Kosten. Sie hatte ihn an den Wochenenden, die sie zu Hause war, zwei oder drei Mal gesehen. Ein Mann ohne Gesicht und ohne Sprache, nur Körper, groß und kräftig. Dass er unter dem Anzug höchstwahrscheinlich eine Waffe getragen hatte, kam ihr erst jetzt in den Sinn.
Wieder eine Welle der Übelkeit. Schlucken.
Sie wechselte die Straßenseite in den Schatten.
Ihr gegenüber hatte die Mutter nichts von dem Psychoterror und ihrer Angst vor dem Exfreund erwähnt. Trotzdem konnte sie dieses Gefühl mit der Luft einatmen, wenn sie in ihrer Nähe war. Und sie bekam es durch Gespräche mit, die sie belauschte - wie das auf der Couch, über Telefonate und dadurch, dass ihre Mutter immer ungreifbarer für sie wurde, immer seltener das Wort an sie richtete, immer weniger vorhanden schien an den ohnehin so raren Wochenenden. Keine konkrete Erinnerung an die Tage im Internat, nur ein bleibender Eindruck von Dumpfheit, Monotonie, ein ewig gleicher Ablauf, ohne Höhen, freudlos, gefangen.
Sie betrat das Geschäft des Juweliers. Goldohrringe sollten es sein. Anna vertrug nur Gold, bei anderen Metallen entzündeten sich ihre Ohrlöcher. Was der Juwelier vor ihr ausbreitete, war zu bieder, goldenes Blattgeranke, Schleifchen, wie es zu älteren Damen passte.
Haben Sie nichts Flotteres, fragte sie, für ein junges Mädchen? Er holte eine andere Kassette. Samtausgeschlagen.
Ihre Knie zitterten. Wollten knicken. Verzeihung, haben Sie einen Stuhl?
Sie setzte sich. Atmete in den Bauch und nahm die Kassette auf den Schoß. Zwei goldene Playboy-Häschen. Sehr jugendlich.
In die Knie atmen.
Zwei Gitarren, Pferdchen. Endlich entdeckte sie zwei Goldringe, in denen je eine kleine Elfe wie in einer Schaukel saß.
Während der Verkäufer die Ohrringe verpackte, versuchte sie aufzustehen, ohne dass ihr die Knie zitterten. Dankbar nahm sie das Glas Wasser an, das ihr der Mann anbot und verließ fluchtartig das Geschäft. Jetzt noch das Parfum und die Blumen.
Erzählte sie Anna genug über sich? Wäre es möglich, dass Anna sie ähnlich fremd und distanziert erlebte wie sie selbst ihre Mutter?
Sie verbrachte Zeit mit Anna, hatte das immer getan. Sie hatte sich für Annas Hobbies interessiert und sie darin unterstützt. Anna tanzte. Sie hatte ihr Kleider für alle Aufführungen genäht und zum Teil Dekorationen aus ihrem Fundus zur Verfügung gestellt. Sie und Helmut fuhren mit Anna auf Urlaub, und zumindest einer von ihnen war immer da. Sie musste keinen Nachmittag und Abend alleine bleiben.
War das genug? Sie wollte Anna fragen, ob das genug war. Oder würde sie mit einer solchen Frage statt Klarheit zu schaffen nur Verwirrung stiften?
Ein Billett fehlte noch. Ein Billett für Geburtstagsglückwünsche, ganz speziell für Anna, nicht für ein Irgendkind, Phantomkind, von dem niemand weiß, was es hier macht, das gar nicht hierher passt, ein Puzzlestein, der überzählig ist, von dahin nach dorthin versetzt, niemals seinen Platz findet.
Sie wollte Anna noch ein Puzzle kaufen und es gemeinsam mit ihr bauen. Tausend Teile sind viel Zeit. Und einen Städteflug für Anna, sich selbst und Helmut. Nicht nach Rom. Nicht in Chiaras Stadt. Nach Lissabon oder Berlin.
Die Blumen mussten Lilien sein. Weiß und Lila. Annas Lieblingsfarben. Weiß. Wie Chiaras Couch. Wie ihre Bluse in der Schule an Festtagen. Sonst war die Bluse hellblau zum dunkelblauen Faltenrock und zur dunkelblauen Weste. Bis heute hatte sie Vorbehalte gegen die Farbe dunkelblau. Sie stand für Konservativismus und Unterdrückung, für Strenge und Schein.
Ihr Vater hatte sie mit 12 Jahren aus dem Internat geholt und bei sich und seiner zweiten Frau aufgenommen. Sie hatte auch daran kaum Erinnerungen. Eine bild- und wortlose Zeit..
Die Billetts waren nach Anlässen sortiert, Geburt, Geburtstag, Hochzeit, Jubiläum, Danke, großteils mit halblustigen Texten versehen. Instant-Karten für Instant-Menschen.
Sie kaufte ein fliederfarbenes Kuvert mit dazu passendem Papier ohne Aufdruck. Fliederfarben wie die Couch der Therapeutin.
Wieso musste sie ständig an etwas erinnert werden? Wohin sie ging, worauf ihr Blick auch fiel, es löste eine Erinnerung aus oder zumindest eine Art Vision.
Anna wurde zwölf. Sie sah Cynthia ähnlich, Chiaras viel jüngerer Schwester. Sie hatten beide glattes braunes Haar und diese schmale Nase. Sie hatten manchmal den gleichen schroffen Tonfall in der Stimme, und ihre Augen verengten sich zu den gleichen schmalen Schlitzen, wenn sie wütend oder beleidigt waren.
Sie hatte gemeinsam mit Cynthia bei Chiaras Mutter gelebt, nachdem ihr Vater sich offenbar nicht mit ihr zu helfen gewusst hatte. Ihr nicht zu helfen gewusst hatte.
Bei der Großmutter war es langsam besser geworden. Sie fand wieder Worte, vor allem mit Cynthia, die nur drei Jahre älter war als sie. Begann wieder zu werken, nähen und basteln, schrieb sich in der Hetzendorfer Modeschule ein, war erfolgreich dort, gewann Preise für Modelle, die sie nebenbei in Pausen entwarf.
Sie betrat ein Stehcafe, bestellte einen Espresso und zog den fliederfarbenen Papierbogen aus der Tasche, um Anna ein paar Worte zum Geburtstag zu schreiben. Worte.
Die Bedienung stellte den Espresso auf das Tischchen. Die Worte drehten sich in ihrem Kopf. Sie riss ein Stück Papier der Breite nach ab und begann aus dem verbleibenden Quadrat einen Origami-Kranich zu falten. Sie zog an seinem Schwanz, und er bewegte die Flügel. Ich schenke Anna diesen Vogel. Und ich drück sie fest. Besser als Worte.
Draußen begann es zu regnen.
Chiara hatte sie von der Schule abholt. Freitag Mittag. Wieder zu spät. Auf dem leeren Platz vor der Schule nur mehr sie und die Schultasche. Im Regen. Es war der Tag vor ihrem zwölften Geburtstag. Sie durfte im Auto vorne sitzen. Chiara war gut gelaunt. Beklagte sich nicht einmal darüber, dass der Sitz nass wurde. Erzählte, dass sie viel Provision bekommen hätte in letzter Zeit, und dass bald ein kleiner Urlaub fällig wäre. In einem Bad vielleicht. Aber erst einmal würde Geburtstag gefeiert.
Sie schluckte. Griff in die Tasche nach der Geldbörse. Zusammen mit der Börse zog sie ein Foto heraus. Chiara im Twin-Set, strahlend. Ein Welle von Übelkeit.
Der Film schob sich von rechts herein. Sie, das Mädchen und Chiara im weißen Peugeot. Heimfahrt vom Internat. Außenansicht. Das Auto fährt durch den Regen. Die Gestalten drinnen nur schemenhaft erkennbar. Der Wagen biegt in die Straße, in der sich die Wohnung befindet. Ein Parkplatz wenige Meter vom Haustor entfernt. Sie steigen aus. Chiara umrundet das Auto, nimmt einen Korb mit Einkäufen aus dem Kofferraum, mit Augenzwinkern, Einkäufe für das Fest. Sie kommt zur Beifahrertür nach vorn und verschließt den Wagen. Sie beide gehen nebeneinander auf das Haus zu. Eine Gestalt löst sich aus dem Haustor, läuft ihnen entgegen. Ein Knall. Unbeschreiblich laut. Chiara stürzt nieder.
Der Korb fällt. Dinge rollen über den Gehsteig.
Das Mädchen, sie, steht einfach da und schaut.
Chiara liegt auf dem Asphalt. Die Augen offen. Blut breitet sich langsam rund um ihren Oberkörper aus. Das Mädchen sieht zu wie der rote Rand unaufhörlich immer weiter kriecht.
Der Mann steht auch noch da. Schwarze Farbe auf dem Teppich. Zerschnittene Kleider. Weiße Scherben. Rotes Blut. Dann läuft er weg.
Sie kann sich nicht rühren. Sich nicht zur Mutter bücken. Nicht schreien, nicht weinen. Der Film reißt.
Die Espressotasse fällt zu Boden. Scherben. Verzeihung, mir ist nicht gut, nehmen Sie das Geld, das Sie bekommen, aus der Börse, bitte. Sie wühlt in der Tasche nach einer Tablette, dem Handy. Helmut muss sie abholen, sie kann in kein Taxi steigen, schon gar nicht in die U-Bahn. Anna soll zu Hause warten. Helmut stellt keine Fragen. Zum Glück.
Sie geht hinaus auf die Straße. Luft. Regen. Sie lehnt sich gegen die Hausmauer. Atmen. Der Regen wie Feuertropfen auf der Haut. Tut trotzdem gut.
Chiaras Foto flattert zu Boden. Bild nach oben. Sie lässt es liegen, beobachtet, wie es von den fallenden Tropfen erst an einigen Stellen und dann zur Gänze dunkler wird, stellt sich vor, wie der Regen es ganz aufweicht und schließlich bis zur Unkenntlichkeit zersetzt.
Sie hebt es auf und steckt es in die Manteltasche. Die Haare kleben ihr am Kopf. Das Seidenpapier klebt an den Blumen. Wasser dringt durch die dünnen Ledersohlen ihrer Schuhe. Ihre Strümpfe kleben in den Schuhen.
Endlich Helmuts Wagen vor ihr in zweiter Spur. Die Hintertür schwingt auf. Anna! Sie hat nicht zu Hause gewartet. Mama, komm schnell!
Sie packt die Blumen fester und läuft die paar Meter zum Auto. Lässt sich neben Anna auf die Rückbank fallen. Helmut wirft einen Blick zurück: Alles okay? Sollen wir fahren? Sie nickt.
Anna umarmt sie. Ist dir schlecht? Du hast wieder zu viel gearbeitet, stimmts?
Tränen lösen sich und vermischen sich mit den Regentropfen auf ihrem Gesicht.
Sie holt den Origami-Kranich aus der Tasche und drückt ihn Anna in die Hand. Whow, sagt Anna, die hast du mir oft gemacht, als ich klein war!
Das ist deine Geburtstagskarte, sagt sie und ihre Stimme klingt brüchig.
Anna drückt sie fest. Oh Mama, danke, alles wird gut!
Ja. Alles würde gut werden.
Für Anna.
Der Keller
Ich kannte Esther letzten Herbst und den darauf folgenden Winter.Sie arbeitete in der Kantine. Diese kleine, fahrige Bewegung, mit der sie sich die Haarsträhne aus dem Gesicht wischte, nachdem sie sich gebückt hatte, der leicht gehetzte Blick, der zwischen den Gesichtern der Menschen, die um Essen anstanden und den Töpfen und Wärmeplatten hin und her sprang, nirgendwo länger verweilte.
Sie fiel mir auf, weil sie nicht hierher passte. Nicht hinter diesen Essensausschank, nicht in dieses Büro, nicht in diese Art von weiß gekachelten Raum mit riesigen Glasfenstern, die den Blick in einen grauen Hof freigaben, voll gestellt mit Autos und Müllcontainern.
Ich begann sie zu beobachten. Suchte mir einen Platz, von dem ich gute Aussicht auf die Theke hatte und ließ sie, während ich mein Essen zu mir nahm, nicht aus den Augen.
Ich stellte mich nochmals für Kaffe an, obwohl ich den üblicherweise später oben im Büro selbst zuzubereiten pflegte, versuchte ihren Blick zu fangen. Keine Chance. Er huschte über mich hinweg wie über alle anderen vor und nach mir in der Schlange.
Ich konnte nicht einmal sagen, dass sie mir gefiel. Sie interessierte mich, und ich begann an sie zu denken, noch lange, nachdem der Mittagstisch vorüber war.
Als die Russen 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, ging ich in die zweite Klasse Volksschule. Ich hörte von einem möglichen 3.Weltkrieg munkeln, Panzer, die bis dahin Spielzeug für mich gewesen waren, rollten in den Nachrichtenbildern durch Prag. Ich hörte erstmals das Wort Flüchtling, hörte von Menschen, die sich selbst anzündeten.
Ich hörte es nebenbei, in Gesprächen, die mein Stiefvater mit Freunden oder meiner Mutter führte, nicht mit mir. Mit Kindern wurde nicht über Politik und Krieg gesprochen. Nicht über Angst. Man setzte sie ihr einfach aus.
Ich bekam sie unbestimmt zu spüren. Auf seltsame Weise erfasste sie mich, ich hatte Tagträume von rauchenden Körpern und Panzerreihen, die die Laxenburgerstraße herunter krochen, auf unser Haus zu. Zu fragen getraute ich mich nicht. Ich tat, als wüsste ich von nichts, als gingen Nachbarschaftsgespräche und Zeitungsbilder spurlos an mir vorbei.
Ich war ein Schlüsselkind. Heute ist dieses Wort verpönt. Damals hießen alle Kinder so, die nach der Schule oder nach dem Hort, wenn ihre Eltern noch arbeiteten, allein nach Hause gingen. Den Schlüssel trugen viele von ihnen an einem Band um den Hals, um ihn nicht zu verlieren. Ich trug ihn an einer kleinen Kette am Hosenbund. Ers teckte in meiner Hosentasche und wurde nur abgenommen, wenn die Hose in die Wäsche kam.
Wir wohnten in einem Gemeindebau in Favoriten, damals wie heute ein Arbeiterbezirk. Was unseren Bau über die anderen der Umgebung erhob, war im wahrsten Sinne seine Höhe. Auch heute, 40 Jahre später, gibt es in der nächsten Umgebung keine vergleichbar hohen Häuser.
Wir wohnten auf Stiege 27. Jeweils 4 Stiegen wurden zu einem Block zusammengefasst.
Ich war ein Einzelkind. Und ein Einzelgänger, mehr unfreiwillig, als freiwillig. Mein Stiefvater verstand es auf subtile Art, Freundschaften zu Gleichaltrigen im Keim zu ersticken. Ersatz dafür bot er nicht an. Abgesehen von Schule und Hort war ich meist allein.
Obwohl ich im Laufe meiner Erwachsenenjahre durch diverse Fortbildungen, Beziehungen, Therapien und Übung meine Kommunikationsfähigkeit enorm erweitert habe, bin ich das heute noch, ein Einzelgänger.
Esther hatte auffallend weiße Arme, als wären sie nie an der Sonne gewesen, schmale Hände mit langen Fingern, die sich wie Lianen um Topfgriffe und Pfannenstiele schlangen.
Manchmal durchfuhr mich ein seltsamer Schauer, wenn ich sie so hantieren sah.
Sie sprach nur das Nötigste, mit leiser Stimme. Trotzdem verstand man jedes Wort, weil ihre Sprache klar war und präzise. Und weil sie ganz bei der Sache blieb, von der sie doch meilenweit entfernt zu sein schien. Sie lächelte nie.
Wenn das Wetter mild war, fuhr ich nachmittags manchmal mit dem Aufzug hinauf zur Dachterrasse, um eine Zigarette zu rauchen und ein bisschen frischen Wind an meine grauen Zellen zu lassen. Eines Tages stieß ich da oben völlig unvermutet auf Esther. Sie stand mit dem Rücken zu mir und telefonierte, gegen das Geländer der Terrasse gelehnt, den rechten Fuß um den Knöchel des linken Beines geschlungen.
Sonst war niemand da.
Ich blieb stehen, wusste nicht, ob vor oder zurück, fühlte mich seltsam in der Falle, obwohl sie mich noch nicht bemerkt hatte und mit Sicherheit nicht einen Bruchteil der Gedanken an mich verschwendete wie ich an sie.
Der Wind trug ihr Lachen zu mir herüber. Sie lachte.
Ich fühlte einen kleinen Stich im Herzen. Wollte die Lähmung abschütteln, griff nach meinen Zigaretten, ging nicht geradeaus zu ihr, sondern nach links Richtung Naschmarkt ans Geländer. Sie schaute nach Süden, ich nach Osten.
Kam mir vor wie ein Schuljunge, der schwänzt und im Kaffeehaus auf seine Lehrerin trifft.
Ich drehte den Kopf nach ihr. In dem Moment steckte sie das Telefon in die Handtasche und sah mich. Ihr Blick streifte mich nur, trotzdem bemerkte ich die Irritation.
„Möchten Sie eine Zigarette?“, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf, blieb aber stehen.
„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“ Ich weiß nicht, was mich plötzlich so beharrlich machte.
Sie musterte mich. Ihr Ausdruck verriet nicht, was sie dachte.
„Okay“, sagte sie.
„Ich koche ihn in meinem Büro, wenn es Sie nicht stört“, „ich hab dann noch zu arbeiten“, fügte ich als Erklärung hinzu.
„Okay“, sagte sie wieder.
Wir fuhren mit dem Lift drei Stockwerke tiefer in die Etage, in der sich mein Büro befindet. Ich hoffte plötzlich, keinem meiner Kollegen zu begegnen. Wollte mir ihre Gesichter und Gedanken nicht vorstellen, wenn sie mich mit dem Kantinenmädchen in meinem Bürozimmer verschwinden sähen. Welcher Teufel hatte mich da eben geritten?
Um diese Zeit ist auf den Gängen wenig los. Wir blieben unbemerkt.
Ich machte mich an der Espressomaschine zu schaffen, überlegte, wie ich das Gespräch in Gang bringen könnte. Sie hatte dazu offenbar keine Idee oder auch kein Interesse. Sie lehnte sich mit dem Rücken an meinen Schreibtisch und ließ den Blick über meine Büroeinrichtung schweifen.
Ich brachte ihr den Kaffee, der Löffel fiel vom zu kleinen Rand des Untersetzers, sie bückte sich, strich im Aufstehen die Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Danke“, ihr Gesicht vor meinem, ein Anflug von Lächeln.
„Ich studiere Psychologie“, sagte sie, „der Job hier machts möglich“.
„Ah“, machte ich, blieb an ihren weißen Fingern hängen, die die Tasse umklammert hielten. Ihre Knöchel traten gläsern hervor.
„Hab jetzt gleich noch eine Vorlesung“, sagte sie. „Ich heiße Esther“.
Sie nippte ein Mal am heißen Kaffee, drückte mir einen Kuss auf den Mund, stellte die Tasse auf den Tisch und ging zur Tür. „Und du?“, fragte sie und drehte sich noch einmal um.
Ich räusperte mich. „Erwin“.
Sie zog die Tür von außen zu.
Ich fasste mit der Hand nach meinen Lippen. Noch nie hatte mich eine Frau, mit der ich keine zehn Worte gewechselt hatte, eine Frau, die ich kaum kannte, auf den Mund geküsst.
Ich konnte an diesem Tag nicht mehr arbeiten.
Im Sommer 1968 war ich mir selbst überlassen. Meine Mutter und mein Stiefvater gingen zur Arbeit, ich verbrachte viel Zeit in der Umgebung unseres Wohnblocks. Es gab damals einiges an unverbautem Gebiet ringsum, Lehmgruben der ehemaligen Ziegelwerke, sehr geeignet für meine Streifzüge als Indianer auf der Pirsch oder als Medizinmann auf der Suche nach Kräutern für den Trank, der den roten Mann vor Krankheit schützt und unbesiegbar macht.
Eines Tages, ich saß gerade an meinem kleinen Lagerfeuer, schaute in die züngelnden Flämmchen und hing meinen Gedanken nach, schoben sich zwei Beine in mein Blickfeld.
Es durchfuhr mich siedend heiß. Ich dachte an Polizei, Verhaftung, Gefängnis, meinen Stiefvater, der mich unter wüsten Beschimpfungen herausholen käme, an Schläge daheim. Wie oft hatte er mir verboten zu zündeln, wie drastisch hatte er mir nicht die möglichen Folgen ausgemalt. Was wäre ich nur für ein störrisches, verbocktes Kind, kein Wunder, von seinen Genen sei da ja auch nichts vorhanden.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich wagte, den Kopf zu heben, das Herz schlug mir bis zum Hals, ich konnte nicht mal schlucken, als ich bemerkte, dass das Kinderbeine waren, in abgetragenen braunen Sandalen, roten Kniestrümpfen mit einem kleinen Loch an der großen Zehe, weiße Knie.
Ich schaute höher, sah einen blaugrünen Kilt, der damals in Mode war, zusammengehalten mit einer großen Sicherheitsnadel und ein blaues T-Shirt. Das Mädchen hatte schwarze, schulterlange Haare und eine sehr helle Haut.
Ich hatte noch immer einen Kloß im Hals, brachte kein Wort hervor.
„Du zündelst“, sagte sie und zog dabei die Nase kraus, „ nicht schlecht“. Sie setzte sich neben mich, dass ihre Schulter meine berührte.
„Das ist ein Lagerfeuer“, meine Stimme klang belegt.
Ich hatte sie früher schon gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen, sie wohnte in der Nachbarstiege, Nummer sechsundzwanzig, ging in eine andere Schule und war vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich.
Mein Interesse am weiblichen Geschlecht war damals noch nicht wirklich erwacht, ich fand Mädchen zwar nicht blöd wie viele der Buben aus meiner Klasse das taten, sie waren mir aber auch nicht ganz geheuer, in ihren Kleidern, mit ihren Puppen und Haarspangen, ihrem Gekicher beim Gummi- und Tempelhüpfen, Schnurspringen oder wie immer ihre Spiele hießen, bei denen sie auf und nieder wippten und ihre Körper eigenartig verrenkten.
Dieses Mädchen hier war anders. Sie spielte mit mir Indianer, unter unseren Schritten verwandelten sich die Lehmgruben in weite Prärielandschaften. Wir waren darin unterwegs, allein, zu Fuß und mit unseren Pferden, erledigten gemeinsam Bleichgesichter, hängten sie an Telegraphenmasten auf, mit dem Gesicht nach unten.
„Jetzt warten wir, bis ihnen die Ameisen das Weiße aus den Augen fressen“, sagte sie, wischte eine schwarze Strähne aus der Stirn und trat dann sorgfältig unser kleines Feuer aus.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals anderen begegnet wären. Es war unser Revier.
Wir bauten aus Ästen und Brettern ein Tipi, darum wickelten wir ein altes Leintuch, das ich aus dem Vorzimmerkasten stahl, sie schob mir das T-Shirt hoch und kitzelte mich mit Grashalmen am Bauch. Eine unbekannte Erregung überkam mich dabei.
Als mir Esther am Tag danach das Essen über die Theke reichte, ließ nichts an ihrem Verhalten auf unser privates Treffen in meinem Büro schließen. Kein verstohlener Blick, kein Lächeln, nichts. Sie verließ vor mir die Kantine, ohne sich nach mir umzudrehen.
Kurz, bevor ich das Büro verlassen wollte, klingelte das Telefon. Esther. „Wenn du magst, komm heute abend vorbei, ich koche Spargel.“
Ich war schockiert von dieser unverhohlenen Aufforderung, gleichzeitig angezogen und überaus geschmeichelt von dem verlockenden Angebot, wobei ich mir nichts aus Spargel machte. Ich konnte meinen gegensätzlichen Gefühlen nicht ansatzweise Ausdruck verleihen, tat, als wäre ich gar nicht überrascht, sagte ganz locker: „ Ja, warum nicht? Gib mir die Adresse!“
Esther wohnte am Wienerberg, nicht weit vom Hochhaus meiner Kindheit. Wenn ihre Fenster nicht in die entgegen gesetzte Richtung gezeigt hätten, ich glaube, ich hätte es sehen können.
Die Wohnung war unauffällig, praktisch eingerichtet, ohne spezielle Note, es roch ein wenig nach Babypuder. Seltsam. Auf dem Tisch und im Regal Bücher und Skripten, Freud, C.G. Jung, Alice Miller. Nichts, was mich verlockte darin zu blättern.
Esther stellte das Essen auf einen Glastisch, ließ sich neben mich auf den Stuhl fallen und strich sich die Strähne aus der Stirn.
„He, schau nicht so ernst“, sagte sie, selbst todernst, und nahm einen Bissen. Dann spießte sie das nächste Stückchen auf und schwenkte die Gabel vor meinen Augen. „Du isst ja gar nichts, du wirst noch vom Fleisch fallen“, die Gabel mit dem Spargelstück näherte sich meinem Mund. Wie ein Vogeljunges sperrte ich ihn artig auf und schluckte, ohne richtig zu kauen.
Mit ihren langen, weißen Fingern, so weiß, fast durchsichtig wie der Spargel auf dem Teller, umfasste sie mein Kinn, kam mit ihrem Gesicht näher an meines heran, bis unsere Nasen sich berührten.
„Erst sprichst du mich an, dann bist du stumm wie ein Fisch und ängstlich wie ein Kaninchen im Bau“. Ich konnte sie riechen. Wieder Babypuder. Sie hatte nichts von einem Baby an sich.
Sie aß noch ein paar Bissen. Dann stand sie auf, zog mich vom Stuhl hoch und führte mich ins Schlafzimmer. Sie knöpfte mir das Hemd auf, strich mir mit ihren langen Fingern über den Adamsapfel, den Hals, die Brust, den Bauch hinunter bis zum Hosenbund. Ich schluckte. Ich sah durch das geöffnete Fenster hinaus über die Triesterstraße, und obwohl es die entgegengesetzte Richtung war, sah ich im Tagtraum unser Hochhaus.
Ich traf das Mädchen den ganzen Sommer über. Anfangs zufällig, später verabredet.
Wenn ich ihr von den Nachrichtenbildern erzählte, spielten wir hin und wieder auch Krieg. Wir warfen kleine Steinchen, das waren die Gewehrkugeln, und wer getroffen wurde, musste tot umfallen. Nach den Berichten von den Selbstverbrennungen machte ich keine Lagerfeuer mehr.
Einmal fesselte sie mich am Bauch liegend an Armen und Beinen, nicht fest, ich hätte mich befreien können. Dann legte sie sich auf meinen Rücken, nahm mein Kinn und zog meinen Kopf zu sich hoch. Von vorne schaute sie schräg auf mich herunter. Ich sah ihr Gesicht verkehrt herum, unten die Augen, dann die Nase mit kleinen Sommersprossen, dann den Mund. Sie sagte: „Und? Magst du das?“ Sie steckte mir den kleinen Finger in den Mund. Ich spuckte ihn aus und schüttelte sie ab. „Spielen wir was anderes!“
Sie setzte sich auf und blies sich eine Haarsträhne, die aus ihrem Pferdeschwanz gerutscht war, aus der blassen Stirn.
Wir spielten Doktor. Erst sollte ich mein T-Shirt ausziehen, sie klopfte mir auf die Brust, horchte mich mit der hohlen Hand ab. Wenn sie mich kitzelte, musste ich lachen. Sie lachte selten. War sehr konzentriert. Sie sagte mir, ich solle ganz still sein. Ein braver Patient.
Eines Tages fragte sie mich, ob ich wüsste, dass Mädchen und Buben untenherum anders wären. Ich wusste da nur so ungefähr Bescheid, da meine Mutter sich nicht gern nackt zeigte und ich auch keinen Zugang zu Illustrierten mit nackten Frauen hatte, wollte mir aber keine Blöße geben, und bejahte. „Gut, dann können wir uns da auch untersuchen“, sagte sie und berührte durch die Hose meinen Penis. Ich genierte mich, gleichzeitig war es aufregend, und da sie inzwischen meine geheime Freundin war und ich ihr vertraute, ließ ich es zu. Ich lernte, wie Mädchen untenherum aussehen. Ich dürfte sie berühren, und obwohl ich dabei sehr vorsichtig und zögerlich vorging, legte sie dabei seltsam ihre Stirn in Falten und drückte beide Augen fest zu. Sie roch nach Erde und nach Gras, nach Feuer und Prärie. Es war ein Sommer voller Gefahren, voller verbotener Dinge, ein Sommer voller Lust und Angst, der Sommer 1968.
Esther sprach nicht sehr viel. Sie hatte mich am ersten Abend in ihrer Wohnung ausgezogen. Ich war unfähig, ihr etwas entgegenzusetzen und seltsam außer mir. Ich wollte es zwar auch, kam mir dabei aber seltsam unerfahren vor, als würde ich in einem Spiel, das mir bekannt war, plötzlich in völlig neuen Regeln unterwiesen, die mich irritierten und aus der Fassung brachten. Sie ging nicht gefühllos vor, kein bisschen grob, ließ sich auch Zeit, erforschte meinen Körper erst neugierig mit ihren langen, weißen Fingern, ihrer Zunge, bevor sie sich auf mich setzte, sich langsam auf und ab bewegte, mich ansah ohne zu lächeln und dann die Augen schloss.
Als ich später ansprach, dass sie so ungewohnt schnell zur Sache gekommen war, sah sie mich spöttisch an und meinte, dass ich sie doch oben auf dem Dach angesprochen und in mein Büro eingeladen hätte. Daraus ließe sich doch folgerichtig mein Interesse an ihr ableiten, und Interesse eines Mannes an einer Frau liefe doch ebenso folgerichtig auf Sex hinaus, das wolle ich wohl nicht bestreiten. Sie habe die von mir eingeschlagene Richtung nur weiterverfolgt und sähe nichts Seltsames darin. Sie halte nichts von Brautwerbung und dem ganzen Prinzessinnen-Getue. Das sei doch nur Schmalz und der Wahrheit abträglich.
Ich fragte sie, was denn die Wahrheit sei. „Dass ich da bin“, sagte sie, „und du dort, und manchmal begegnen wir uns. Dann spielen wir was zusammen, dann bin ich wieder da und du dort“.
Ich fand Esther faszinierend, aber sie verunsicherte mich auch. Sie sprach nie von Gefühlen, und ich hatte in ihrer Gegenwart Probleme davon zu sprechen. Nach wenigen Anläufen ließ ich es ganz.
Wir trafen uns in Abständen von drei Tagen bis zu einer Woche. Meist rief sie an, manchmal schob ich ihr an der Kantinentheke unauffällig einen kleinen Zettel mit der Aufforderung zu einem Treffen zu. Niemand wusste von unserer Geschichte.
Der Sex mit ihr war aufregend, wie ich es zuvor selten erlebt hatte. Im Gegensatz zu der kühlen, spröden Art, die sie an den Tag legte, war sie im Bett leidenschaftlich und völlig gelöst. Manchmal lachte sie auch, und dann verspürte ich wieder kurz diesen kleinen Stich ins Herz, wie oben auf der Terrasse, wo ich ihr Lachen zum ersten Mal gehört hatte.
Wenn sie mit dem Fleischmesser in der Kantine einen Braten aufschnitt, konnte ich den Blick nicht von ihren Fingern lösen, die den Messergriff fest umschlossen und zielsicher eine Scheibe nach der anderen herunter säbelten.
Der Sommer ging zu Ende, und eines Tages kam das Mädchen nicht mehr. Sie hatte mir nicht gesagt, dass sie wegbleiben würde. Ich fühlte mich verloren und streifte die wenigen Tage bis zum Schulbeginn allein umher, lustlos, ein bisschen traurig. Wenn ich nach Hause kam, warf ich einen Blick hoch zur Nachbarstiege, wo ich ihr Fenster vermutete, sah aber nie jemanden.
An einem der ersten Schultage, wir hatten früh aus, und ich musste nicht in den Hort, weil meine Mutter mich nach der Arbeit gleich mit zum Friseur nehmen wollte, kam ich
nach Hause und stellte den Fernseher an. Fernsehen gab es damals noch nicht rund um die Uhr, erst ab Nachmittag bis circa Mitternacht, nur mittwochs wurde am Vormittag für Menschen, die nachts arbeiteten, das so genannte Schichtarbeiterprogramm gesendet.
Es war mir streng verboten, wenn ich allein war, fernzusehen. Meistens hielt ich mich daran. Ich hatte auch kaum Gelegenheit, das Verbot zu brechen, da meine Mutter fast gleichzeitig von der Arbeit heim kam wie ich vom Hort.
Darum wollte ich jetzt die Gunst der Stunde nutzen, fühlte mich als Abenteurer, packte mein Salami-Jausenbrot aus, das ich von der Schule übrig hatte und setzte mich voll gespannter Erwartung auf die Couch.
Es begann gerade „Psycho“ von Alfred Hitchcock. Mit Voranschreiten der Handlung wurde ich immer bewegungsloser, bis ich vor Angst wie gelähmt war, unfähig, mich von der Bank weg zu rühren, um den Fernseher abzudrehen. Gefangen wie ein Kaninchen im Bau, vor dem der Fuchs lauert. Ich erinnere mich heute noch an das Loch in der Wand, die Treppe im alten Haus, den Duschvorhang, das Messer, das immer wieder zustößt, am eindringlichsten aber an die mumifizierte Leiche der Mutter im Keller, den Wahnsinn des Hauptdarstellers, der in ihre Rolle schlüpft, mit ihrer Stimme spricht, in ihren Kleidern mordet, und dann scheinbar, wieder als er selbst, nichts mehr davon weiß.
Damals als 9-jähriges Kind, hat mich die Psychologie dieses Films verfolgt. Ich war starr vor Angst, jemand mir Bekannter, jemand aus meiner Umgebung könnte ebenfalls eine gespaltene, eine doppelte Persönlichkeit besitzen und mich plötzlich niederstoßen, auf mich einstechen, mich verstümmeln.
Der Film war zu Ende, ich wusste meine Mutter würde bald kommen, ich zwang mich aus meiner kauernden Position auf dem Sofa, rutschte auf Knien zum Fernsehapparat und schaltete ihn aus.
Butter von meinem Jausenbrot, von dem ich nur einmal abgebissen hatte, klebte auf der Bank. Ich verrieb sie zu einem größeren Fettfleck.
Meine Mutter schimpfte, als sie es bemerkte. Mein Stiefvater schimpfte die kommenden Wochen, weil ich beim Duschen den Vorhang nicht mehr zuzog, und das Badezimmer unter Wasser setzte.
Ich konnte mit keinem Menschen darüber reden. Ich hatte etwas Verbotenes getan, und hätte es zugeben müssen, um darüber sprechen zu können. Das war nicht möglich. Mit Mitgefühl war nicht zu rechnen. Meine Mutter und vor allem mein Stiefvater hätten mir die Schuld gegeben. Sie hätten es als „gerechte Strafe“ angesehen, als „Lehre“, die mir erteilt worden war, weil ich nicht auf sie gehört hatte. Auch in der Schule gab es niemand, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich dachte an das Mädchen, wünschte sie herbei, um ihr alles zu erzählen. Sie hätte mich verstanden, das wusste ich. Sie hätte mich beruhigt.
Ich fürchtete mich abends vor dem Einschlafen das Licht abzudrehen, schlief manchmal bei brennender Lampe, und meine Mutter fragte mit vorwurfsvollem Ton, was das denn jetzt wieder für neue Sitten seien.
Mit Angst erwartete ich den bevorstehenden Herbst, die Heizsaison, in der es meine Aufgabe war, die Briketts für den Ofen aus dem Keller zu holen. Einem Keller, der mit den Kellern der Nachbarstiegen verbunden war, die beim Einschalten des Lichts jedoch stets im Dunklen blieben, nur ein kleiner Bereich wurde erhellt, dann mündeten die Gänge mit den Holztüren, die mit Vorhangschlössern versperrt waren, in undurchdringliche Finsternis. Finsternis, aus der mich jederzeit eine mumifizierte Gestalt anspringen konnte, mit grässlich verzerrtem Mund und leeren Augenhöhlen.
Die Treffen mit Esther wurden seltener. Sie habe für Prüfungen zu lernen, sagte sie. Auf meine Frage, ob sie meiner überdrüssig sei, ob ich sie vielleicht langweile, schüttelte sie nur den Kopf. „Du denkst verkehrt herum nach“, sagte sie. Was denn richtig herum wäre, wollte ich wissen. „Ob du meiner vielleicht überdrüssig bist“, sagte sie und knabberte an ihrem Bleistift. Das war ich nicht. Oder war ich es? Es befremdete mich zusehends, dass Esther so völlig losgelöst von mir durchs Leben ging, dass sich unsere Wege abgesehen von unseren Treffen bei ihr oder mir zu Hause nicht kreuzten, dass es keine gemeinsamen Unternehmungen gab abgesehen von unseren sexuellen Erlebnissen, die zwar nach wie vor umwerfend und berauschend waren, sich aber letztlich in ihrem Sosein erschöpften.
Ich konnte nicht mit ihr darüber sprechen. Als wäre da eine Tür mit einem Schloss daran, das ich nicht aufbekam. Als wäre da ein kleiner Teil im Hellen, den ich sehen, verstehen und benennen konnte, und ein ungeahnter, weitaus größerer im Dunkeln, beklemmend, namenlos und unbezwingbar.
Als ich eines Tages nach einer hitzigen Stunde mit Esther im Bett unter die Dusche stieg und mich einseifte, sah ich plötzlich im Augenwinkel einen Schatten. Psycho. Esthers weiße Hand um den Messergriff. Panik überfiel mich, ich riss den Duschvorhang zur Seite und starrte Esther an, die ihren Kimono vom Haken an der Wand nahm. „He, Erwin“, sagte sie, und ich hörte Besorgnis in ihrer Stimme. „Alles in Ordnung?“ Ich erbrach mich in die Dusche.
Polizei kam ins Haus. Sie befragten verschiedene Leute zu dem Mädchen. Zu ihrer Familie.
Meine Mutter fragte mich, ob ich sie gekannt hätte.
„Nur vom Sehen“, antwortete ich, und mein Magen krampfte sich zusammen. Unsere Treffen, unsere Spiele während des Sommers gingen nur uns etwas an und niemand sonst.
Sie fanden das Mädchen. Im Keller der Nachbarstiege, der mit unserem Keller verbunden war. In einem Wäschekorb. Der neue Freund der Mutter, hörte ich, hatte sie missbraucht und umgebracht, danach in den Korb gelegt und hinunter getragen.
Es wurde viel geredet im Haus. Nicht mit mir, aber so, dass ich es mitbekam. Neben mir. Über mich hinweg. Auf dieselbe Art wie über den Einmarsch der Russen.
Was genau war das: dieses „Missbraucht“? Die Mutter soll ja eine Schlampe gewesen sein, die sich mit allem möglichen Gesindel eingelassen hätte. Und auch das Mädchen hatte schon in seinem Alter eine so aufreizende Art. Kein Wunder sei es gewesen, dass dann so was dabei raus komme.
Mir war, als würde ich zwischen all diesem Gerede, diesen Gerüchten zerrieben, als seien diese Worte Steine, die einer nach dem anderen mit Wucht meinen Kopf trafen, und mit jedem Treffer wurde er schwerer und gleichzeitig leerer.
Ich war voller Angst, voller Verzweiflung und ohne Hilfe.
Meine Freundin, von der niemand wusste, war tot. Von einem Irren ermordet und in den Keller gebracht, in einem Korb abgestellt wie Brennholz.
Der Wahnsinn war aus dem Fernseher gekrochen, damals zu Schulanfang. Er hatte sich hier sein Opfer gesucht und meine Freundin ausgewählt, um mir zu zeigen, dass ich nicht ungestraft Verbote übertreten kann.
Ich sah die weißen Knie des Mädchens vor mir, wie sie über den Rand des Wäschekorbs baumelten, als ein namenloser Mann, der in meiner Fantasie das Gesicht von Anthony Perkins trug, sie nachts die Kellerstiege hinunter schleppte.
Ich sah ihre weißen Knie unter dem Faltenrock, als sie erstmals in mein Blickfeld getreten war, am Lagerfeuer. Ihre braunen Sandalen, mit denen sie das Feuer austrat. Ihr verkehrtes Gesicht, ihre Augen über mir, wie sie auf mich hinuntersah, als ich gefesselt auf dem Bauch im Tipi lag.
Ich konnte nächtelang nicht schlafen. Ich konnte mich nicht konzentrieren, nicht lernen, musste fast die dritte Klasse wiederholen. Ich wurde regelmäßig wegen Übelkeit und Erbrechen von der Schule nach Hause geschickt.
Mein Stiefvater schimpfte und verhöhnte mich, wenn ich mit schlechten Noten heimkam oder mich weigerte, die Briketts aus dem Keller zu holen. Lieber hielt ich Schläge aus, als nur einen Fuß da hinunter zu setzen.
Der Schrecken verließ mich lange nicht. Ich fühlte mich auf unsagbare Weise in dieses Grauen involviert. In einer mir selbst nicht nachvollziehbaren Art verantwortlich.
Esther gab ihre Arbeit in der Kantine auf. Sie erzählte mir nichts davon. Blieb eines Tages einfach weg. Und eine andere, ältere Frau stand dort an ihrer Stelle. Wir sahen uns zu jener Zeit nur mehr alle zwei bis drei Wochen. Ich wartete auf ein Zeichen. Einen Anruf.
Es kam nichts. Ich versuchte zwei, drei Mal, sie anzurufen, doch sie ging nie ans Telefon.
Esther blieb verschwunden. Ich sehnte mich noch manchmal nachts nach ihren weißen Fingern, die über meinen Körper strichen wie Grashalme, mich kitzelten, mich aufregten, hoch peitschten und zur Ruhe brachten.
Wer war Esther? Hatte ich sie überhaupt gekannt?
Du stellst die Frage falsch herum, hörte ich sie sagen. Ich sah sie vor mir, sie wischte die Haarsträhne aus der Stirn. Sie fragte: „Kennst du dich selbst?“
Ich fuhr einige Male aus dem Schlaf hoch, mit klopfendem Herzen, schwer atmend, hatte geträumt, die Nachricht von Esthers Tod hätte mich erreicht.
Nur langsam, ganz langsam beruhigte ich mich.
Nach der dritten Klasse fuhren wir im Sommer nach Lignano. Das Meer half mir über die Prärie hinweg. Ich konnte wieder freier atmen.
Ich unternehme keine Spaziergänge auf dem Wienerberg.
Ich meide Keller.
Und ich versuche zaghaft und oft erfolglos mit Frauen über Gefühle zu sprechen.
An den Namen des Mädchens erinnere ich mich schon lang nicht mehr.